Im nächsten Schritt möchte ich die doch nüchternen Ausführungen der ICD-10 etwas verständlicher, begreifbarer machen. Leitsymptome sind die Auffälligkeiten nach denen Fachleute auf die Idee kommen, dass hier ein Trauma vorliegt, bzw. diese überprüfen. Intrusionen, Übererregung und Vermeidung sind die Leitsymptome einer PTBS und sollen hier näher erklärt werden. Diese Symptome sind nicht willentlich oder gar vorsätzlich erzeugt, sondern werden meist nicht einmal unbedingt bewusst wahrgenommen.
Intrusionen
Intrusionen sind ungewollte und nicht kontrollierbare Erinnerungen an das traumatische Erlebnis und entsprechen nicht den kognitiven Gedächtnisleistungen des Alltags. Sie werden nicht in abstrakten Bildern oder Begriffen reduziert abgespeichert. Traumatischen Erinnerungen sind zum Teil bis in feine Details festgehaltene, geradezu eingebrannte Sinneseindrücke. Gerüche und Geschmäcker, Gehörtes und Gesehenes, Gefühltes und Gedachtes, vieles wird genauestens abgespeichert und vom Betroffenen in der traumatischen Erinnerung für ihn originalgetreu wieder erlebt. Der Betroffene erinnert sich nicht an die Situation, sondern erlebt sie erneut. Die Komplexität und der Detailreichtum dieses Wiedererlebens hängt von der Schwere der traumatischen Erfahrung und deren zeitlicher Nähe ab.
Diese Erinnerungen sind nicht erzählte Geschichten. Erlebnisse, die nicht erzählbar sind – für die es keine Worte gibt. In der Erinnerung gibt es, wenn überhaupt, häufig nur Bilder und/oder diffuse Ängste oder anderer belastende Gefühle, die durch ihre Absolutheit, Überwältigung und Bedrohlichkeit sich nicht fassen lassen. Sie sind nicht begreifbar und es gibt keine Begriffe für sie. Hirnphysiologisch wird die Verbindung zwischen verschiedenen Hirnbereichen gestört. Die interne Kommunikation ist behindert oder unterbrochen, insbesondere zwischen dem Mandelkern, der die Sinneseindrücke filtert, ihnen Bedeutung und grundlegende Gefühle zuordnet und dem Großhirn mit dem narrativen (erzählendem) Gedächtnis, das die persönlichen Geschichten speichert, wiedergibt und interpretiert. Ebenso ist die Verbindung zwischen rechter Hirnhemisphäre, die für Wahrnehmung und nonverbaler Kommunikation auf einer ganzheitlichen Ebene zuständig ist und der linken gestört, die sich vermehrt um Sprache, Analyse und Lösung von Problemen bemüht.
Ausgelöst werden die Intrusionen durch so genannte Trigger. Es sind äußere oder innere Reize, die sich mit der traumatischen Situation verbinden. Da die traumatisierende Situation detailreich abgespeichert ist, kann jeder kleinste Sinneseindruck, wie ein Geruch, ein Geräusch oder allein das Geschlecht einer Person, das sich mit einem Täter verbindet, usw. ein äußerer Auslöser sein. Innere Auslöser können Körperzustände oder auch Gedanken sein. Dabei ist häufig weder für den Betroffenen, noch einem Außenstehenden eine Verbindung zwischen der Intrusion und dem auslösenden Trigger erkennbar. Mit zeitlichen Abstand wird es oft immer schwerer diese Zuordnung zu sehen und herzustellen.
Die Intrusionen nehmen aufgrund der nicht gekonnten, bzw. nicht gewollten Integration und durch die Gewöhnung häufig im Lauf der Zeit ab. Übrig bleibt nur der verbundene Gefühlszustand. Die konkreten Bilder, Erinnerungen an die traumatische Situation hingegen verschwinden vermehrt in einer Amnesie. Die Trigger lösen dann keine Intrusionen mehr aus, sondern nur noch die verbundenen und nicht integrierten Emotionen.
Intrusionen treten nicht nur im belasteten, traumatischen Bereich auf. Die Erinnerungen an den letzten Urlaub mit allen verbundenen Sinneseindrücken und Gefühlen beim Anblick des mitgebrachten Souvenirs, ist zum Beispiel ein ähnlicher Prozess. Im positiven Bereich wird dieser Prozess meist nicht als störend oder belastend empfunden, obwohl er sich auch hier mit einer Grundstimmung der Sehnsucht für eine positive Gelassenheit im Hier und Jetzt einschränkend auswirken kann. Im negativen hingegen ist er immer ein Hindernis in der Entwicklung des Betroffenen. In beiden Bereichen gibt es ein Muster, das sich auf der Nichtintegration Erfahrungen und Gefühlen begründet. Das nicht abgeschlossene Erlebnis ist nicht Bestandteil des kontinuierlichen Lebenslaufs und wirkt sich störend und hinderlich auf die Gegenwart aus. In den Intrusionen bringt sich das Unbewältigte als noch nicht integriert in Erinnerung.
Das traumatische Ereignis bringt sich als zur Aufarbeitung anstehendes Geschehen unbewältigt und nicht integriert in Erinnerung.
Übererregung
Eine Übererregung kann sich in folgenden Formen äußern: häufige bis ständige Angespanntheit und überzogen erscheinende Reaktionen, Konzentration- und Schlafprobleme, extreme Stimmungsschwankungen und Schreckhaftigkeit.
In der traumatischen Situation erlebt sich der Traumatisierte als fremdbestimmt und ohnmächtig, er empfindet sich als handlungsunfähig. Sie zerstört das Gefühl der Sicherheit und Unverletzbarkeit. Der Glaube an Kontrolle und Macht über das eigene Leben wird grundlegend erschüttert. Der Betroffene kann die Situation in sein bisheriges Verständnis vom Leben nicht einordnen. Sie erscheint ihm unverständlich und sinnlos. In den Intrusionen wiederholen sich diese Erfahrungen noch. Es ist ein existentieller Einschnitt in seinem Leben. Alles oder zumindest Vieles ist nicht mehr wie zuvor. Die traumatische Situation lässt sich nicht in eine kontinuierliche Lebensgeschichte einflechten. Sie ist in die eigene Erzählung über sich selbst nicht zu integrieren. Die mit der traumatisierenden Situation verbundenen Gefühle überfordern den Betroffenen. Ihm fehlen zum Zeitpunkt des Geschehens adäquate Bewältigungsmöglichkeiten. So verwandelt sich unter Umständen das Vertrauen ins Leben in eine tief gehende Angst davor. Diese tiefgehende Verunsicherung macht den Betroffenen ängstlich und erhöht quasi permanent den Energie- und Stresslevel. Da dies für einen Außenstehenden nicht unmittelbar erkenntlich ist, reagiert der Betroffene für andere anscheinend unangemessen und übererregt. Auf dem Hintergrund der noch nicht bewältigten und eingeordneten Erfahrungen, dem Gefühl der fehlenden Kontrolle und der Angst sind diese Reaktionen für ihn jedoch folgerichtig, auch wenn er das unter Umständen intelektuell selbst nicht so sehen kann.
Der menschliche Organismus will Selbstbestimmung und Autonomie wieder herstellen, die nicht integrierten Gefühle sorgen für Anspannung.
Vermeidung
Mit Vermeidung ist gemeint, dass der Traumatisierte bestimmte Reize und Situationen anhaltend möglichst vermeidet, die irgendwie mit der traumatischen Situationen in Zusammenhang stehen, ihn daran erinnern und Intrusionen auslösen (könnten).
Natürlich vermeidet der Betroffene Alles, was für ihn zu einem Wiedererleben des Unfassbaren, des Unaushaltbaren werden kann. Die in der traumatischen Situation erlebten Gefühle hat er schon dort nicht bewältigen können, aufgrund der in der Übererregung verankerten Unsicherheit vermeidet er jetzt erst recht, was ihn in eine mögliche Wiederholung bringt. Jedes neue Erleben der Situation, auch wenn dies „nur“ innerlich geschieht, verstärkt die Erfahrung und verknüpft sie unter Umständen auch noch mit anderen, neuen Einzelheiten, die ebenso zu Triggern werden können. Wenn die traumatische Erfahrung nicht verarbeitet und integriert wird, mehren sich so im Lauf der Zeit die Situationen, die mit den Gefühlen der ursprünglichen verknüpft werden. Das Vermeidungsverhalten nimmt mit dem zeitlichen Abstand zu und tritt immer häufiger auf.
In der Befürchtung, es zu stabilisieren und zu verstärken, will der menschliche Organismus das Erschütternde auf keinen Fall wieder erleben.
In diesen Leitsymptomen spiegelt sich meines Erachtens jedes (nicht materielle) Problem wider. Jedes Problem zeichnet sich dadurch aus, das man unwillentlich immer wieder daran denken muss, dass man zu angespannten oder überzogenen Reaktionen neigt und dass man vermeidet in die entsprechende Situation zu kommen. Lösen wir das Problem nicht auf, neigt es dazu immer wieder und immer häufiger aufzutauchen.