Auf der evolutionären biologischen, psycho-physischen Ebene lässt sich das traumatische und dissoziative Geschehen als misslungene, oder besser als (noch) nicht abgeschlossene Abwehr betrachten.
Entstehung
Um mit gefährlichen Situation umgehen zu können sind Lebewesen von der Evolution mit lebenserhaltenden Schutzfunktionen ausgestattet worden. Auf der körperlichen Ebene sind das beim Menschen und bei Tieren die gleichen biologischen Reflexe. Diese körperlichen Abwehrmechanismen laufen bei (lebens-) bedrohlichen Situationen automatisch ab. Sie werden nicht durch unseren Geist gesteuert, lösen jedoch in der Folge Gefühle in uns aus und gelangen erst dann in unser Bewusstsein.
Diese Reflexe aktivieren den Körper und ermöglichen es uns so in gefährlichen Situationen schnell und adäquat zu handeln. Aus unserer Entwicklungsgeschichte haben wir sie als Überlebensinstinkt mit auf den Weg bekommen. Bei einer Gefahr befähigen sie uns ohne vorher nachdenken, reflektieren und bewerten zu müssen diese schnellstmöglich abzuwehren. Flucht, Angriff oder sich tot stellen sind die grundlegenden Reaktionen. In bedrohlichen Situationen sorgten sie für unser persönliches Überleben und tun es auch heute noch. Sie ermöglichen uns schnelle, Existenz sichernde Handlungsmöglichkeiten, die nicht durch unsere im Vergleich dazu viel langsameren intellektuellen Analyseprozesse verzögert werden.
Basis aller Möglichkeiten der Abwehr ist den Körper auf ein Höchstmaß zu aktivieren. Nach außen gerichtete Aufmerksamkeit, Herzfrequenz, Blutdruck und Muskelspannung werden auf maximale Leistung hochgefahren. Gleichzeitig werden die für die Situation nicht nötigen oder gar hinderlichen Körperfunktionen, wie z.B. die Verdauung und das Schmerzempfinden minimiert. Auch die kognitiven Leistungen des Großhirns sind in dieser Situation nicht hilfreich und werden zurückgesetzt.
Den körperlichen Reaktionen folgen unsere Gefühle. Diese befinden sich in Wechselwirkung mit den physischen Zuständen und Wahrnehmungen. Sie werden auf Basis bestimmter körperlicher Empfindungen erkannt und beschrieben, lösen diese andererseits aber auch aus oder verstärken sie. Die Wahrnehmung des physischen Stresses in den Abwehrreaktionen verbinden sich mit dem Erleben von emotionalen Zuständen. Diese Gefühle sind vielfältiger und werden mehr von individuellen Prägungen bestimmt als die körperlichen Reflexe. Die Gefahrensituation, die bei jedem Betroffenen die gleiche physische Aktivierung bewirkt, wird aufgrund differierender Vorerfahrungen und momentaner psycho-physische Verfassungen emotional sehr unterschiedlich erlebt. Dies führt in der Auswirkung zu individuell verschiedenen Abwehrreaktionen auf die gleiche Bedrohung.
Die emotionalen Entsprechungen für den Angriff sind dabei in erster Linie Aggressionen und Wut. Flucht dürfte sich überwiegend mit Gefühlen von Wut, Trauer und Angst verbinden. Beim Totstellreflex steht wohl eindeutig (Todes-)Angst im Vordergrund. Die Gefühle des Kampfes und der Flucht können sehr unterschiedlich bewertet und empfunden werden. Aufgrund der persönlichen Vorerfahrungen und der aktuellen Situation können sie als „Kick“, als stimulierender Reiz, aber ebenso auch als lebensbedrohlich erlebt werden. Wegen seiner nicht kontrolliert entstehenden und momentan nicht ausagierbaren körperlichen Stresssymptome wird das Gefühl des Totstellreflexes wahrscheinlich durchweg als negativ, bedrohlich und lebensfeindlich empfunden.
Unsere Gedanken folgen wiederum den Emotionen, stehen aber genauso in Wechselwirkungen zu ihnen und den zugrunde liegenden körperlichen Zuständen.
Aufgrund unseres intellektuellen Abstraktionsvermögens und der hohen Komplexität unserer inneren Welten gibt es hier eine schier unendliche Vielzahl möglicher Reaktionen auf das Erleben der Abwehrreaktionen. Je nach den individuellen Vorerfahrungen und der derzeitigen Befindlichkeit können diese aufgrund bereits vorhandener ähnlicher oder passender Erlebnisse unter Umständen sofort und ohne Probleme in bestehende Muster integrierbar sein. Wenn jemand, wie zum Beispiel ein Stuntman einen Autounfall, die entsprechende Abwehrsituation in Gedanken und vielleicht sogar in Handlungen immer wieder durchdacht und geübt hat, hat er dafür entsprechende Muster entwickelt. Sie hat für ihn eine gewisse Normalität und wird nicht allzu schwer zu integrieren sein. Ist die erlebte Abwehrreaktion in ihren Erfahrungen (Handlungen, Gefühlen und Gedanken) zu weit entfernt vom Bisherigen, braucht es Zeit zum Aufbau neuer Konzepte. In dieser Zeit kann es in der psychisch gegenseitigen Bedingtheit von Körper, Gefühle und Kognitionen zu Verdrängungen kommen oder Zustände werden durch die Aktivierung gegenteiliger Gefühle vermieden. Rückfälle in niedrigere, kindliche oder jugendliche Verhaltensweisen sind genauso möglich wie Verleugnung und Verneinung von anscheinend Offensichtlichem. Zuordnungen und Verantwortungen können von einer Person zur anderen verschoben werden. Es kann intellektualisiert und rationalisiert, aber auch somatisiert werden usw. Allen diesen psychischen Abwehrstrategien gemein ist die Bestrebung die Gefühle des Erlebten und noch nicht Integrierten möglichst nicht wahrzunehmen. Da sie aber trotzdem vorhanden sind, werden sie dissoziiert, werden wahrgenommen aber nicht zum Selbst oder zur Welt gehörig definiert.
Auflösung
Bei Kampf und Flucht löst sich das hohe Energieniveau körperlich in den meisten Fällen durch die entsprechenden Aktionen zeitnah wieder auf. Im Totstellreflex ist die Aktivierung des Körpers zwar ebenso sinnvoll, da sie auf eine eventuell noch mögliche Reaktion wie Kampf oder Flucht vorbereitet und den unter Umständen zu erwartenden Schmerz unterdrückt. Es entsteht aber ein Zustand innerer Erregung gepaart mit äußerer Erstarrung bei gleichzeitiger körperlicher Desensibilisierung. Da hier das Stressniveau nicht unmittelbar durch Aktivitäten abgebaut wird, bleibt der beschriebene Zustand bis zu einer Entladung erhalten. Im Tierreich gibt es angeborene Mechanismen zum Abbau der nicht benötigten Energie. Nach der durchstandenen Situation findet eine Abreaktion durch Muskelkontraktionen in Form von Zittern und Schütteln statt. Durch die unmittelbar wieder einsetzende rational-emotionale Kontrolle beim Menschen hingegen wird diese häufig überlagert und außer Kraft gesetzt.
Auf der Ebene der Emotionen findet durch die körperlichen Aktionen bei Angriff oder Flucht ein Abbau oder eine Modifizierung der Gefühle statt. Aus den aggressiven werden nach einem bestandenen Kampf vielleicht traurige oder zufriedene, auf jeden Fall verändern und lösen sich wohl die zuvor vorhandenen Aggressionen. Ebenso wandeln sich die Emotionen durch das körperliche Ausagieren bei der geglückten Flucht. Beim Tot stellen hingegen kann sich die Angst mangels einer Handlung, einer Aktivität in der Situation nicht verändern. Sie muss aktiv und vorsätzlich nach dem Geschehen aufgelöst werden, sonst bleibt sie in einem eingefrorenen Zustand bestehen. Aufgrund der mit dem Totstellreflex einhergehenden körperlichen Desensibilisierung kann sie aber gleichzeitig schlecht oder gar nicht wahrgenommen und beschrieben werden.
Auf der Ebene unserer Gedanken lösen sich die Abwehrerfahrungen im Bisherigen auf. Das heißt sie müssen mit den zuvor entwickelten Ideen und Konzepten in Einklang gebracht werden.
Psychisch
Auf der psychischen Ebene werden die möglichen Reaktion noch wesentlich vielfältiger. Wie oben schon angeführt repräsentiert die Psyche das innere Geschehen des menschlichen Organismus aus Körper, Gefühl und Kopf. Hier gibt es ebenso Bewältigungsstrategien gegenüber Bedrohungen (der Einheit). Diese sind mit den gleichen Körperreaktionen und Gefühlslagen wie die physischen Abwehrmechanismen verbunden. Die psychische Abwehr kann einerseits ein zeitlich folgender Teil der Reaktion auf körperliche Gefährdungen sein, läuft aber andererseits in den gleichen Bahnen und Mustern bei emotionalen oder seelischen Belastungen ab.
Zur Abwehr potentiell verletzender Reize gibt es für die Psyche eine Vielzahl möglicher Verhaltens- und Reaktionsmuster. Aufgrund des nicht direkten Bedrohungspotenzials für das Leben und der hohen Komplexität der Psyche, sind die psychischen Mechanismen langfristiger und vielseitiger. Sie können gegen jede Störung des einheitlichen Ich-Bildes entwickelt werden. Sie können durch äußere Geschehnisse genauso ausgelöst werden, wie durch innere Reaktionen.
Da die psychischen Abwehrreaktionen in der Chronologie der Ereignisse erst nachrangig zu den körperlichen auftreten, prägen sie sich nur aus, wenn die körperlichen nicht erfolgreich oder vollständig zu Ende gebracht werden konnten. Die körperlichen Abwehrmechanismen Flucht oder Kampf lösen sich überwiegend durch die entsprechenden Handlungen unmittelbar in sich selbst auf. Die aktivierte körperliche Energie löst sich ebenso wie die entsprechenden Gefühle, die ge- und erlebt der natürlichen lebendigen Veränderung unterliegen. Es gibt keinen Grund mehr die Abwehr auf den gesamten psychischen Organismus auszudehnen. Außerdem werden Angriff und Flucht durch die körperlichen Aktivitäten, auch wenn sie automatisch ablaufen, weitestgehend als selbstbestimmt, der eigenen Kontrolle unterliegend, aktiv und zu Persönlichkeit gehörend wahrgenommen.
In der Erstarrungsreaktion mit ihrer Immobilität und Inaktivität nimmt der Betroffene sich als fremdbestimmt und das Geschehen als außerhalb seiner Kontrolle wahr. Beim sich tot stellen hingegen sich das innere Geschehen durch die körperliche Inaktivität und dem Zeitfaktor über die körperliche und die gefühlsmäßige auf die kognitive Ebene aus und wird so somit zu einem Ereignis, welches die ganze Psyche umfasst. Daraus ergibt sich, dass die psychischen Abwehrmechanismen Teile des Totstellreflexes sind, beziehungsweise ihn beinhalten. Aufgrund ihrer Komplexität und ihres Willens zum Überleben stellt sich nicht die gesamte Psyche tot, sondern nur bestimmte mit der Belastung verbundene Teile. Diese werden gegenüber dem weiteren Verlauf, der weiteren Entwicklung des Lebens tot gestellt, das heißt abgespalten, dissoziiert.
Geistig
Unser Kopf, unser Intellekt, unsere Ratio ist immer bestrebt, uns die Welt und vor allen Dingen uns selbst einleuchtend, logisch und rationell zu erklären. Dies macht er meist gut, mit Widersprüchen tut er sich schwer und mit tiefer gehenden Paradoxien ist er meist überfordert. ist er mit dieser Situation überfordert. In seiner Dualität von schwarz oder weiß, gut oder schlecht, ja oder nein schafft er es nicht, die sich widersprechenden, nicht integrierten, dissoziierten unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile gleichzeitig zu erklären. Es entsteht eine innere Unklarheit, Zerrissenheit. Dies erzeugt ein intellektuelles Misstrauen gegenüber sich selbst und führt zu Grabenkämpfen gegen sich selbst, die natürlich nie gewonnen werden können.
Rückkopplung
In diesen hierarchisch strukturierten Ebenen gibt es Rückkopplungen von der jeweiligen zu den ihr untergeordneten. Das heißt die genannten Gefühle sind zwar einerseits die Entsprechung zu den körperlichen Zuständen, können aber andererseits diese auch auslösen. Ebenso lösen die psychischen Abwehrstrategien wiederum Angst und die nicht abbaubare Stressreaktion des Totstellreflexes aus. Und selbst die Gedankenmuster, das innere Kopfkino löst bei den entsprechenden Gedanken Reaktionen auf den anderen Ebenen aus.
So können die im traumatischen Prozesses entstandenen Muster sich auf den unterschiedlichen Ebenen selbst reinszenieren. Mit der auslösenden Situation verbundene Gefühle, Abwehrmechanismen und Gedankenmuster lösen traumatische Reaktionen auf den tiefer liegenden Ebenen aus, einschließlich der körperlichen Aktivierung zum Angriff oder zur Flucht.
So kommt es auch häufig im therapeutischen Prozess der Annäherung an das traumatische Geschehen und eine Öffnung dem Therapeuten gegenüber zu Angriff- oder Flucht-Reaktionen. Die im Totstellreflex gebunden Möglichkeiten zum Angriff und zur Flucht werden in der sich entwickelnden Integration wieder erweckt und reaktiviert.