Leben ist gerichtete Entwicklung und sie findet geordnet statt. Jeder einzelne Mensch macht dabei die gleichen Entwicklungsschritte in der gleichen hierarchischen Reihenfolge. In der fortschreitenden Entwicklung geht es nach Ken Wilber, der sich wiederum u.a. auf diverse Entwicklungsforscher bezieht, um zunehmende Tiefe, zunehmende relative Autonomie, zunehmende Innerlichkeit und abnehmenden Narzissmus bei immer größerer Differenzierung.
Jede Entwicklung führt zu einer Transzendierung und beinhaltet dabei die folgenden Teilschritte: Verschmelzung, Differenzierung, Integration. Verschmelzung ist der Ur-Zustand vor dem jeweiligen Prozess der Transzendierung. In der Verschmelzung ist das Neue zwar eigentlich schon da, es wird aber noch nicht als etwas Differenziertes wahrgenommen. Erst im zweiten Schritt wird erkannt, hier ist etwas neues, es ist anders wie zuvor (es ist die Differenzierung des neu Entdeckten vom Bisherigen). In der Integration wird das Neue mit dem Bisherigen zusammen gebracht, es wird (neuer) Teil des Ganzen. Gelingen diese Schritte, ist die Welt immer noch DIE Welt, ich bin immer noch ich und auch alles andere ist immer noch das, was es zuvor war, obwohl sie alle nun um neue Qualitäten, neue Facetten auf einer zuvor unbekannten Ebene reicher geworden sind.
So entdecken wir die Welt der Gefühle in dem Moment, wo wir feststellen, dass Ich und meine Gefühle nicht das Gleiche sind, dass sie nicht eins aber auch nicht zwei sind, dass eine neue Facette der Welt sind, die sich von den bisherigen unterscheidet und doch dazu gehört. Vielleicht noch anschaulicher lässt sich dieser Prozess an der Situation darstellen, wenn ein Säugling entdeckt, dass es ein Unterschied macht ob er in das Kissen oder den eigenen Daumen beißt. Er stellt fest, dass die Welt und er getrennt sind, das die Wahrnehmungen des Kissens und der Faust verschiedene sind.
Im Lauf der Zeit verändern wir durch unsere Erfahrungen, die daraus folgenden Transzendierungen und Entwicklungen/Entfaltungen unseren Umgang mit den Dingen/Erscheinungen dieser Welt/ unseres Lebens. Als Säugling schreien wir, wenn wir Hunger haben. Später haben wir immer noch denselben Hunger, aber unser Umgang damit hat sich geändert. Dies funktioniert erst mit unseren körperlichen Bedürfnissen und Erscheinungen, später entwickeln wir uns ebenso über die Abhängigkeit von den Gefühlen hinaus. Letztendlich sind diese Transzendierungen auch auf weiteren Ebenen möglich (und nötig). Wir können genauso das Denken integrieren und dabei die Abhängigkeit von unserer Intellektualität auflösen. Die Ideen von der Getrenntheit von anderen Menschen und der Welt können folgen und die Auflösung der Zeit. Dieser Vorgang findet meist unbewusst statt und wird höchstens erst viel später realisiert.
Jede dieser Transzendierungen schafft etwas mehr relative Autonomie, weil sich jeweils das neue nun mehr nur als ein Aspekt zeigt und nicht als das Ganze. Damit sind wir nicht mehr seinem Absolutismus, seinem Diktat unterworfen. So ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob ich ein Gefühl habe, es als Facette der Welt, des Lebens und meiner Person sehe oder ob ich es als allumfassend, nicht beeinflussbar und mich beherrschend wahrnehme. Im ersten Fall kann ich Möglichkeiten entwickeln damit im Denken und Handeln umzugehen, im zweiten hingegen falle ich ganz in das Gefühl hinein und bin nur noch dieses. Im Lauf der Zeit werden so immer mehr zuvor äußere Mächte und Kräfte zu inneren; die Autonomie wird größer.
Der Prozess der Transzendenz kann aber aus unterschiedlichsten Gründen auch nicht funktionieren. Nach Wilbers Modell prinzipiell an zwei Stellen. Entweder kann die Differenzierung schief gehen oder die Integration. Misslingt die Differenzierung, wird die neue Welt nicht angenommen, sie wird verleugnet, verdrängt und so getan als ob es immer noch wie zuvor ist. Narzisstisch wird das Alte heilig gesprochen und das Neue als nicht zugehörig zum eigenem Leben einer gegensätzlichen und feindlichen äußeren Welt zugeordnet. Unter Verleugnung des Neuen will der Betroffene (zumindest in dem entsprechenden Kontext) zurück auf oder in Muttis Schoß. Das Selbst wird im Widerspruch und dissoziiert zur Welt und/oder zum Leben erlebt.
Wird hingegen die Integration nicht vollzogen, stehen die bisherige und die neue Welt anscheinend unvereinbar sich gegenüber. In dieser Dissoziation springt der Betroffene zwischen den verschiedenen inneren Facetten hin und her, ohne deren Zusammenhänge und Einheit erkennen zu können. Diese kann er zwar jeweils in der inneren und/oder äußeren Welt, im Leben verorten, aber nicht zusammenbringen.
In beiden Fällen gibt es eine Spaltung, eine Dissoziation im Leben des Betroffenen. Der Mensch hat jedoch grundsätzlich das Bestreben zur Heilung (im Sinne von Heil, Eins sein) in Bezug auf sich selbst und auf sich und die Welt. Jede nicht gelungene Transzendenz beinhaltet und/oder bildet demnach immer eine seelische Verletzung, die sich mehr oder minder und in den entsprechenden Kontexten und Situationen als hinderlich und störend für den lebendigen Fluss auswirken.