Aron Antonovsky hat sich originär nicht mit Traumata beschäftigt. Er war 1970 als Medizinsoziologe in Israel mit der Anpassungsfähigkeit von Frauen an die Menopause beschäftigt. In den Untersuchungen stolperte er darüber, dass 29 Prozent der Überlebenden der deutschen Konzentrationslager in Europa während der Nazi-Herrschaft über eine gute psychische und physische Gesundheit verfügten. „Den absoluten unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, anschließend jahrelang eine deplazierte Person zu sein und sich dann ein neues Leben in einem Land neu aufgebaut zu haben, das drei Kriege erlebte … und dennoch in einem angemessenem Gesundheitszustand zu sein! Dies war für mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst auf den Weg brachte, das zu formulieren, was ich später als das salutogenetische Modell bezeichnet habe …“(S. 15)
Salutogenese
Das Modell der Salutogenese (Entstehung der Gesundheit) war für Antonovsky nicht der dualistische Gegenpart zur Pathogenese (Entstehung der Krankheit). Für ihn war es „ein signifikant und radikal anderer Ansatz der Erforschung von Gesundheit und Krankheit“ (S. 18). Von der Beschreibung seines Modells als präventiv distanzierte er sich. Die Idee der Prävention sah er als der pathogenetischen Sicht angehörig, da sie ebenso von den sich gegenseitig ausschließenden Begriffen von Krankheit und Gesundheit ausgeht. Die Dualität von krank oder gesund löste er, indem er beides als etwas lückenlos Zusammenhängendes, als ein Kontinuum beschrieb. „Wir sind alle sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund.“ Auch die Frage des aktuellen Standpunktes auf diesem Kontinuum war für ihn nicht wichtig. Relevant erschien ihm nur die Richtung der individuellen Bewegung. Wird man kränker oder gesünder, und was sorgt dafür?
Er kritisierte die pathogenetische, kausale Sicht mit ihrer beschränkten und beschränkenden Spezialisierung auf Symptome. Die Gesamtheit des Menschen in Krankheit und Gesundheit kann aus diesem Blickwinkel nicht gesehen werden. Er wollte diese Ausrichtung auf kausale Ursachen und Wirkungen zugunsten einer Wahrnehmung mannigfaltiger Zusammenhänge in der Geschichte des Patienten verändern . Im krassen Gegensatz zur Pathogenese war er der Ansicht, dass sowohl Krankheit, aber auch die selbstregulierenden Prozesse zur Gesundung nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Aus herkömmlicher Sicht werden bestimmte Reize, so genannte Stressoren, immer als Auslöser für Symptomatiken gesehen. Als Risikofaktoren werden sie (fast) ausschließlich in Relation und Relevanz zu Krankheit gesetzt. Auf die Auswirkungen bewältigter Stressoren als Quelle persönlicher Kraft und Entwicklung wird noch kaum oder gar nicht geschaut. In der Forschung wird im Regelfall nur auf die Verbindung zwischen einem vermeintlichen Auslöser (Stressor) und dessen Wirkung (Symptom) hin untersucht. Die Frage, warum ein Teil der untersuchten Population nicht symptomatisch reagiert, wird nicht gestellt und verfolgt. Dabei ist der entsprechende Prozentsatz immer hoch und meist sogar der weitaus größere. Und nur zufällig wird manchmal gemessen, dass der nicht betroffene Anteil gestärkt aus dem Geschehen geht; aber es wird nicht beachtet. Für Antonovsky waren Stressoren allgegenwärtig und normale Bestandteile des Lebens, die nicht nur Risiko, sondern mindestens genauso häufig die Stärkung von Ressourcen beinhalten.
Daraus ergab sich für Antonovsky die salutogenetische Frage „Warum befinden sich Menschen auf der positiven Seite des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums oder warum bewegen sie sich auf den positiven Pol zu, unabhängig von ihrer aktuellen Position“ (S. 15).
Kohärenz
Als Antwort hat er aus unstrukturierten Tiefeninterviews mit 51 schwer traumatisierten Menschen das Konzept des sense of coherence (SOC) entwickelt, das im Deutschen mit Kohärenzgefühl übersetzt wird. Alexa Franke, die Übersetzerin seines Buches „Salutogenese“ schreibt dazu: „Wir haben kein deutsches Wort, das vergleichbar dem englischen sense sowohl die perzeptorische als auch die kognitive und emotionale Seite des Begriffs umfasst. Am ehesten sind all diese Aspekte nach meinem Sprachempfinden noch im Wort Gefühl enthalten, wenn man sich nicht ausschließlich auf den emotionalen Gehalt des Wortes bezieht, sondern es mehr in dem Sinne gebraucht, in dem wir alle ab und an das Gefühl haben, dass am Nachmittag die Sonne scheint, irgend etwas nicht ganz richtig ist oder die Dinge sich schon so entwickeln, wie man das aus früheren Erfahrungen kennt.“ (S. 12)
Antonovsky definierte das Kohärenzgefühl wie folgt: „Das SOC ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchen Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“ (S. 36)
Einfacher ausgedrückt ist es ein Gefühl des Vertrauens zum Leben und sich selbst. Es begründet sich auf drei Ebenen. Die erste beinhaltet, dass man Ideen, Verständnis und Konzepte hat oder entwickeln kann, zu dem was einem widerfährt (Geist, Gegenwart). In der zweiten geht es darum, dass man die Fähigkeiten und Hilfsmittel hat, um damit umzugehen (Physis, Vergangenheit). Einen Sinn, eine Bedeutung (Spirit, Zukunft) für sich im Geschehen zu entdecken, ist die dritte Ebene. Es geht dabei nicht um eine Bewertung. Das ganze Geschehen kann durchaus als negativ empfunden werden, mit Schmerz, Trauer oder anderen unangenehmen Gefühlen belastet und trotzdem mit einem hohen Kohärenzgefühl verbunden sein. Ebenso können positiv besetzte Erlebnisse durch ein einen niedrigen SOC zur Belastung werden.
In seinem Konzept beschreibt er, dass dieses Kohärenzgefühl sich natürlich nicht auf das gesamte Leben, die ganze Welt bezieht, sondern nur auf die relevanten Stimuli (Reize), die in der persönlichen inneren Welt eine Resonanz hervorrufen. Es ist also kein absolutes, statisches Gefühl, sondern von den individuellen Werten und der eigenen Geschichte abhängig, als auch von der aktuellen Situation und Verfassung. Das derzeitige Geschehen bestimmt immer persönliche Interessen und Grenzen entscheidend mit. Um auf den Ausgangspunkt Antonovskys Überlegungen zurück zu kommen: in der lebensfeindlichen Situation in einem KZ sind wahrscheinlich andere Dinge relevant, als in einer freieren Lebenssituation.
Anfangs sah er die drei beschriebenen Ebenen des Kohärenzgefühls als untrennbare Einheit. Später jedoch merkte er, dass diese zwar sehr stark miteinander korrespondieren und doch unterschiedlich in ihren Auswirkungen und Bewertungen zu sehen sind. Die Bedeutsamkeit erschien ihm die zentrale. Nach seinen Beobachtungen und Überlegungen ist sie für die Richtung der Entwicklung die ausschlaggebende. Wenn wir in einer Situation einen Sinn für uns sehen oder entdecken können, dann werden wir auch versuchen das Geschehen zu verstehen und zu handhaben. Wenn wir andererseits keine Bedeutung finden, werden selbst bei hoher Verstehbarkeit und Handhabbarkeit diese im Lauf der Zeit kleiner, weil wir ohne einen Sinn letztendlich die Motivation verlieren.
Antonovsky beschreibt immer wieder, dass in der pathogenetischen Sicht etwas als „gesunde“ Norm angesehen wird, was es so eigentlich nicht gibt, ein nicht existierender Idealzustand . Sehr anschaulich schildert er dies in Bezug auf Publikationen zur Säuglings- und Kindesentwicklung. In diesen wird beschrieben was passieren sollte, damit es zu einer „gesunden“, sicheren Bindung kommt. „Ich führe dies hier an, um zu betonen, dass die Lebenserfahrungen von Konsistenz, Belastungsbalance und Partizipation in der konkreten Realität nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Ich halte es in der Tat für so etwas wie ein Wunder, wenn sie sich tatsächlich auf einem hohen Niveau befinden. Führen Sie sich das idyllische Bild der gut situierten Mutter vor Augen, die sich beglückt der Aufgabe widmet, ihre ganze Erfüllung in der Sorge um ihren Säugling zu finden, die mit der neuesten pädiatrischen Literatur vertraut ist, die entspannt und glücklich ist. Das Telefon klingelt nie; das Baby ist niemals gereizt; weder streitet sie mit ihrem Ehemann, noch fühlt sie je einen Knoten in der Brust, noch wird sie über den Herzanfall ihres Vaters in Kenntnis gesetzt oder muss erleben, wie ihr das Portemonnaie während eines Spaziergangs mit ihrem Baby im Park gestohlen wird. Und selbstverständlich wird keine andere Person, nicht Babysitter, älteres Geschwisterkind, Nachbar oder Ehemann jemals mit dem Kind Kontakt haben. In dieser Traumwelt wird der Säugling in der Tat eine tiefe Bindung an seine Mutter entwickeln und durch sie das Leben durchgehend als konsistent erfahren.“ (S. 95)
Stressoren
Antonovsky geht in seinem Model davon aus, „dass der menschliche Organismus sich prototypisch in einem dynamischen Zustand eines heterostatischen Ungleichgewichts befindet“.(S. 124) Das heißt, dass wir ständig Reizen aus unserer inneren und äußeren Welt ausgesetzt sind. Egal welche Eigenschaften diese Reize haben, sie bringen uns in ein Ungleichgewicht, in eine Handlungsaufforderung. Dieser Aufforderung folgen wir dann in Richtung erneuter persönlicher Stabilität. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob wir den Reiz positiv oder negativ bewerten. Jeder Reiz bringt uns erstmal in eine Spannung und verbindet sich mit der Frage „was soll ich tun“. Gibt es passende Ressourcen und bewährte Problemlösungen, ist die Frage schnell und leicht zu beantworten. Übersteigt der Reiz hingegen aktuell die persönlichen Möglichkeiten oder greift er sie an, wird aus dem Reiz ein Stressor. Es ist weiterhin nicht von Bedeutung, ob es sich bei dem Reiz um ein angenehmes oder unangenehmes Ereignis handelt. Forschung und Literatur kümmern sich leider immer nur um die negativen. Einzig wichtig ist, ob der Stressor als irrelevant, als zu bewältigende Herausforderung oder als Bedrohung erlebt und bewertet wird. Erst diese Einschätzung, und nicht der Stressor als solches, bestimmt die Auswirkung auf dem Kontinuum von Krankheit und Gesundheit.
Also alle (neuen) Reize sind Stressoren, oder können es zumindest werden. Wir haben (noch) keine automatischen und angemessenen Erwiderungen auf diese neue Erfahrungen. Finden wir Antworten auf das Neue, erweitern sie unseren Erfahrungsschatz und unsere Möglichkeiten. Finden wir sie nicht, führen sie zu ungelöster Spannung, egal ob wir das bewusst erleben oder verdrängen und abspalten. Etwas wird dissoziiert und die eigene Erlebniswelt wird beschränkt. Die nach Entwicklung und Einheit strebende Psyche ist verletzt. Somit ist es eine traumatische Erfahrung, gleichgültig wie klein die Verletzung auch sein mag.
Auswirkung von hohem Kohärenzgefühl
Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl sind in ihrer Grenzziehung flexibler. In Bezug auf eine Situation können sie variieren, was sie aktuell als für sich von Bedeutung erachten. Ebenso sind sie in ihren Strategien zur Bewältigung von Problemen anpassungsfähig. Sie reagieren angemessen unter Berücksichtigung des aktuellen Kontextes und nicht nur auf den Reiz immer gleich. Aus verschiedenen Untersuchungen ergibt sich, dass man von einem bestimmten Coping nicht auf dessen Auswirkung und Nützlichkeit schließen kann. Diese hängen immer von persönlichen, gesellschaftlichen, zeitlichen und anderen Bedingungen ab. (S. 132 f)
Weiterhin muss man Verhaltensweisen, die in der Literatur meist synonym und homogen beschrieben werden, sehr fein differenzieren. So wird zum Beispiel das nicht-gelten-lassen des Zufalls als bestimmender Faktor für Gesundheit und das Gefühl der persönlichen Kontrolle über Gesundheit gleichgesetzt. Sie beinhalten aber Unterschiedliches, wenn nicht sogar Gegensätzliches. Der Ausschluss des Zufalls bedeutet eigene Einflussmöglichkeit zu sehen. Die Idee der Kontrolle hingegen verleugnet äußere Einflüsse. (s. 133)
Ihre Emotionen haben einen konkreten Bezug auf etwas, werden als motivierend erlebt und werden bewusst wahrgenommen.
Die Bedeutung des Konzepts Kohärenz für mein Konzept des Traumas:
Als Erstes und Wichtigstes ist wahrscheinlich der Aspekt zu nennen, dass es wohl nicht Besseres gibt um ein Problem, in diesem Fall ein Trauma, zu lösen, als von denen zu lernen die es geschafft haben. Ebenso wichtig ist die Frage, wie man das Kohärenzgefühl fördern kann.
Antonovsky beschreibt die Unmöglichkeit, Ursachen und Symptome kausal auf einzelne oder wenige Faktoren zu reduzieren. Nach seinen Ergebnissen lassen sich Zusammenhänge nur aus dem jeweiligen Kontext konstruieren. Dementsprechend ist es nicht das Ereignis, dass den Stressor, das Trauma bedingt, sondern die Gesamtheit der individuellen und sozialen Bedingungen. Es ist die ganze persönliche Geschichte mit ihren Vorbedingungen, ihren aktuellen Bezügen und den Ideen für die Zukunft, die gesehen werden muss.
Mit seiner Ausrichtung weg von der Problem- hin zur Ressourcenorientierung entspricht er systemischen Ideen, oder umgekehrt. Die traumatische Erfahrung verbindet sich mit Gefühlen der Ohnmacht. Der Weg der Therapie muss daher in Richtung Eigenmächtigkeit führen, und diese begründet sich wiederum in den persönlichen Ressourcen.
In der Übertragung dieses Gedankens auf therapeutische Konzepte heißt dies, dass es nicht das Optimum sein kann, auf bestimmte Symptomatiken, Diagnosen mit standardisierten Interventionen zu antworten. Eine Vielzahl von therapeutischen Möglichkeiten, die sich in ihrer Wahl an den aktuellen kontextualen Bedingungen des Klienten und des Therapeuten ausrichtet, entspricht solutogenetischen Überlegungen. Das soll nicht heißen, dass es eine Beliebigkeit des (therapeutischen) Handelns gibt. Es meint, dass unser Fokus der Betrachtung sich von Faktoren und kausalen Zusammenhängen abwenden und sich auf immer wiederkehrender Muster in komplexen Zusammenhängen ausrichten sollte.
Das Kohärenzgefühl zu stärken und zu steigern ist auf den drei Ebenen unter Berücksichtigung der zeitlichen Aspekte zu betrachten. Zum Einen ist da die traumatische Erfahrung in der Vergangenheit neu und anders zu beschreiben und zu bewerten. Zweitens ist das Aktuelle getrennt vom Dissoziierten zu sehen. Und drittens ist eine Vision von der Zukunft zu entwickeln oder zu modifizieren, die die Integration beinhaltet.
Inhaltlich bedeutet das, mit Blick auf die individuellen Ressourcen Möglichkeiten auf den drei Ebenen zu finden. Diese finden bedeutet der Ausstieg aus der, mit dem Trauma verbundenen, Opferrolle. Es ist die Bewegung von der erlebten Ohnmacht hin zur Eigenmächtigkeit, auch und insbesondere in der damaligen traumatischen Situation. Es heißt zu sehen, dass man damals unter dem engen, wenig Möglichkeiten bietenden Kontext die (wahrscheinlich) optimale Wahl vollzogen hat. Konkret bedeutet es, den Blick dafür zu öffnen, dass es auf der Ebene der Handhabbarkeit wenig Spielraum gab und die anderen Handlungsalternativen in den Konsequenzen schlechter, belastender, lebensbedrohlicher usw. gewesen wäre. Es war nicht so, dass der Betroffene nicht gehandelt hat (was ja eigentlich auch gar nicht möglich ist), sondern dass er von den gegebenen Möglichkeiten die in dieser Situation beste für sich gewählt hat. Mit diesem Blick ist er einen wichtigen Schritt weiter, eine Erklärung für das Geschehene zu entwickeln. Eine Erklärung, die die Dissoziation zwischen sich und dem Erlebten auflösen kann, weil es eine Rückbezüglichkeit gibt. Den Sinn in dem traumatischen Geschehen zu (er-) finden, zu konstruieren, schafft die Motivation damit umzugehen und es aufzulösen.
Zitate aus: Aron Antonovsky, Salutogenese, dgvt Verlag, Tübingen 1997