Nun entsteht nicht aus jeder schweren, schlimmen oder erschütternden Situation eine PTBS oder schlimmeres. Der entscheidende Faktor ist eine Dissoziation (lat. Trennung, Zerfall). Eigentlich ist sie die Beschreibung schlechthin für ein Trauma und seinen Prozess. In der Dissoziation werden die Erinnerungen nicht oder zumindest nicht vollständig in das persönliche Identitätsbewusstseins integriert. Das heißt eine bestimmte Situation oder Aspekte eines Ereignisses werden als nicht zugehörig zur Welt, zum eigenen Leben und/oder zur eigenen Person erlebt. Die Situation wird von der sonst als kontinuierlich empfundenen Lebensgeschichte und von sich selbst abgespalten wahrgenommen. Häufig werden entsprechende Ereignisse dabei von einer Position außerhalb des eigenen Körpers gesehen. Der Betroffene nimmt das Geschehen aus einer Meta-Ebene wahr, ohne etwas zu spüren, zu fühlen und ohne sich persönlich beteiligt zu empfinden.
Die sich aufdrängenden, nicht aushaltbaren Gefühle des Geschehens bleiben auch nach der auslösenden Situation weiterhin nicht aushaltbar und müssen abgesondert werden. Um die einströmenden Reize zu vermindern und die dramatischen, nicht annehmbaren Emotionen zu reduzieren werden Persönlichkeitsanteile abgespalten, dissoziiert (lat. getrennt, aufgelöst). Insbesondere werden das taktile Spüren (der Schmerz), das emotionale Fühlen (Angst, Ohnmacht) und das Gesehene als Schutz vor der bedrohlichen und überwältigenden Wirklichkeit voneinander getrennt. In den Gefühlen bleibt das Trauma weiter präsent und wird zeitlich in der Gegenwart erlebt. Teile der Person bleiben mit den überwältigenden Gefühlen in dem traumatischen Erleben verfangen und werden dadurch mit und in der Zeit ver-rückt, da sie sich nicht weiter entwickeln, sondern in dem damaligen Zustand quasi eingefroren sind. Andere Anteile entwickeln sich weiter, übernehmen das Nötige zum Weiterleben und funktionieren anscheinend normal und unauffällig. Die einzelnen Persönlichkeitsanteile geraten dadurch aber mit und in ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Handlungen in Widerspruch zueinander. Zwischen ihnen entstehen innere Konflikte, innere Kämpfe um Macht, Anerkennung und Vorherrschaft, die mit wechselseitiger Unterdrückung einhergehen. Häufig streiten emotionale, ver-rückte kindliche Anteile mit rational altersgemäßen, die sich auch in der Präsenz abwechseln. Dabei haben alle Anteile eine „Lebensberechtigung“ und wollen Anerkennung und Beachtung.
In der traumatischen Situation hat der Betroffene den mit Schmerzen und überwältigenden negativen Gefühlen besetzten Körper in seiner Wahrnehmung verlassen. Der Betroffene erlebt sich gespalten in einen Anteil der fühlt und einen der zusieht, der versucht das Geschehen rational und intellektuell zu verarbeiten. Bis zu einer Integration werden die entsprechenden Emotionen später als etwas Fremdes wahrgenommen. In Situationen, in denen die traumatische Erinnerung getriggert (ausgelöst) wird, rutscht der Betroffene in den abgespaltenen Persönlichkeitsanteil. Er ist dann auf der damaligen Entwicklungsstufe und empfindet die traumatisierenden Gefühle, ohne sie, verständlicherweise, mit dem Hier und Jetzt in Verbindung bringen zu können. Die (negativen) Gefühle werden dadurch vom Betroffenen, wenn sie überhaupt gespürt werden, als etwas Externes beschrieben. Diese Gefühle sind für den Betroffenen nicht beeinflußbar, von außen kommend und überwältigend. Letztendlich erlebt er sich dabei von seinen eigenen Emotionen fremdbestimmt, da er diese als nicht zu sich selbst zugehörig sieht.
Die Schwere der Dissoziation und der innere Kampf der verschiedenen Persönlichkeitsanteile kann dabei unterschiedliche Stärken annehmen. Im leichtesten Fall erscheinen einem eigene Verhaltensweisen, Gefühle oder Gedanken fremd und nicht zu sich selbst zugehörig. Sie werden verdrängt oder man sieht die Verantwortung dafür in den Umständen, im Kontext, bei irgendjemand anderen usw. In der stärksten Ausprägung wissen die verschiedenen Persönlichkeitsanteile nichts voneinander, handeln scheinbar unabhängig voneinander, wechseln sich in der Präsenz je nach Bedarf und Bedürfnis ab.
Die Dissoziation findet dabei im ganzen Menschen statt, auf all seinen Ebenen des Daseins. Sie ist gleichzeitig körperlich, emotional und intellektuel vorhanden. Im Denken stellt es sich als widerstreitende innere Stimmen, als miteinander kämpfende Persönlichkeitsanteile. Emotional ist sie nicht wahrgenommene, verdrängte und projezierte Gefühle, die es im eigenen Erleben nicht gibt oder als nicht zu mir gehörig wahrgenommen werden. Körperlich spiegelt sie sich in wenig, schlecht oder garnicht spürbaren Körperempfindungen. Zum Teil können ganze Körperregionen nicht gespürt werden, fühlen sich tot an.
Abhängig von der Schwere der traumatischen Situation, deren Wiederholungen, den mangelnden Bewältigungs- und Integrationsmöglichkeiten und der danach verstreichenden Zeit nimmt die Dissoziation zu, stabilisiert sich und wird manifester. Dementsprechend wird der Ausdruck der Dissoziation, die psychischen und physischen Symptome stärker, vielseitiger und in der medizinischen Sprache pathogener (kranheitserregend). Aufgrund der Komplexität des traumatischen Prozesses und des menschlichen Lebens kann letztendlich jede körperliche oder seelische Krankheit in einem Trauma, beziehungsweise einer Dissoziation begründet sein.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das in der PTBS beschriebene Trauma eine Überforderung des menschlichen Systems ist, die sich auf körperlicher Ebene als Schmerz (der auch psychisch ausgelöst sein kann), in den Gefühlen als Angst und in den geistigen Prozessen als Verunsicherung und Kontrollverlust widerspiegelt. Es ist eine unverarbeitete Situation, die das Selbst- und Weltbild erschüttert. Der traumatische Prozess ist die Transformation von dem nicht gelebten Gefühl, insbesondere der Furcht, hin zur immer mehr wachsenden Angst.